andacht denken

JÜRGEN RENNERT, 2012

III
Meine vierundzwanzig Jahre zurückliegende erste Begegnung
mit den Arbeiten von Wieland Schmiedel im
Kreuzgang des Brandenburger Doms verbindet sich bis
heute mit der Erinnerung an Norbert Eisold. Seine „nur
zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ hektographierten
präzisen Kommentare waren mir in der Dichte, Genauigkeit
und Nüchternheit ihres Hinblicks hilfreich. Die Präsentation
hatte Pfarrer Dr. Heinz Hoffmann arrangiert. Ein Homiletiker,
der sich auf die beredte Wirkung des Schweigens ebenso
gut verstand wie auf die knappe Rede. Dem Fingerzeig
Ludwig Wittgensteins „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt
sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber
muss man schweigen“ folgte er in einer Weise, die kaum
mehr anzutreffen ist.

DOC HOFFMANN (1935 – 2008) – Wieland rief und ruft
ihn bis heute nicht anders. Der früh mit Schwerhörigkeit
geschlagene, nichtsdestotrotz unerhört feinhörige und aufmerkende
Magier, ein wahrhafter „Narr in Christo“, stiftete
zahllose Freund- und Bekanntschaften. Sah sich um und
sah verbindlich hin. Knüpfte ein landweites Netz im aufs
Globale versessenen Universum der DDR. Er brachte auch
Wieland und mich zusammen. Ich wiederhole, was ich
ihm im November 2008 nachrief:

HH
In memoriam Heinz Hoffmann

Mensch hinter auflachendem Kürzel.
Musikant und Zeichner, Hymnolog, Theolog,
Freund und Bruder zaubrisch schöner Künste,
trinkfroh und gottesfürchtig!

Stocktaub hellhörig. Dekoriert
mit dem Orden vom Kreuz
des Bundesverdienstes,
dem blauen Band der Achtsamkeit.
All die Beschirmten und ihre
Plastik zum Begreifen, ihr Dialog
mit der Bibel, ihr Werk deiner Hände ...
Die fein eingefädelte Nadel
des Kunstdienstes - der
Kreuzstich ins Herz ...

Barfuß begreift sich die Welt von unten,
Brandenburgs Dom, Dannenwalde, die Kirche
am Wege, das DOMizil erinnern kaum tilgbar
sein unbeschuhtes Kommen und Gehen.

V
Ein Faltblatt der Wittenberger Stadtkirchengemeinde
erläutert: „Wieland Schmiedel hat im Auftrag der Stadtkirchengemeinde
eine Bodenreliefplatte gestaltet, die
das Motiv von Trittplatten aufnimmt, die etwas unter sich
verdecken wollen. Aber was da zugedeckt wird, lässt sich
nicht verdrängen. Es meldet sich, indem es aus allen Fugen
hervorquillt. Die Quetschungen in den Fugen ergeben
ein Kreuz. Das Leid der Getretenen findet sich wieder
im Leiden und im Kreuz Christi. Der die Bronzeplatte umfassende
Text von Jürgen Rennert nimmt Bezug auf den
schwer verständlichen Gottesnamen ‚Schem Ha Mphoras‘
oberhalb der ,Judensau‘, indem er ihn als den von Juden
‚fast unsagbar‘ beschreibt. Ein frommer Jude spricht den
Gottesnamen aus Ehrfurcht nicht aus. Gott selbst ist mit
den ermordeten Juden in den Tod gegangen. Christi Kreuz
steht dafür.“

GOTTES EIGENTLICHER NAME / DER GESCHMÄHTE
SCHEM HA MPHORAS / DEN DIE JUDEN VOR DEN
CHRISTEN / FAST UNSAGBAR HEILIG HIELTEN / STARB
IN SECHS MILLIONEN JUDEN / UNTER EINEM
KREUZESZEICHEN

VIII
Das Grimmsche Wörterbuch versammelt unter dem – im
kirchlichen Raum heute noch florierenden – Begriff der
„Andacht“ vieles. Die tauglichste Erläuterung ist mir jene,
die von der „Sammlung der Gedanken auf einen Gegenstand“
spricht.

Die in geistlichen Andachten übliche Rede von Gott und
Christus, der heiligen Dreieinigkeit, der Gnade unseres
Herrn, dem Mysterium des Glaubens leidet konfessionsübergreifend
an der Auszehrung durch Floskeln. Und hat
ihre Entsprechung im Ritus politischer Sonntagsreden, in
denen die freiheitlich demokratische Grundordnung, die
Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Heilkraft
des freien Marktes und die Rechtsstaatlichkeit als gegeben
kursieren.

Aus dem Gespür für den Schwund eigener Glaubwürdigkeit
erklärt sich, weshalb und warum Wieland Schmiedel
immer wieder einmal gebeten wurde und gebeten wird,
auch in gottverwaisten kirchlichen Räumen seine Arbeiten
vor- und auszustellen. Häufig genug mit dem Ergebnis,
sie schnell wieder abräumen und entfernen zu müssen.
Seine Triumphkreuz-Baken, seine ausgetretenen Jahrhundertstufen,
seine in Ohnmacht erstarrten, blockhaft formierten
Menschengruppen, seine das Kind betrauernden
Mütter, seine Kreuzwegblätter, die Jesu Hinrichtung auf
bräunlichem Packpapier in schwarzer Kreide bezeugen,
seine in königlichem Selbstbewusstsein thronenden Paare
sind allenfalls saisonal gefragt. Die Störung, die von
ihnen – weit über Aschermittwoch und Karfreitag hinaus –
ausgeht, nervt auf Dauer.

Ebendies beweist mir die Aktualität und die Notwendigkeit
des Schmiedelschen Tuns, das sich erinnerungsstark
einbringt. Auf einem geografisch wie geistig-politisch verminten
Gelände, in dem auf Vergesslichkeit und Selbstvergessenheit
spekuliert wird. Dass sich die Materialien,
die Wieland verwendet, der natürlichen Verwitterung
ungeschützt aussetzen dürfen, trägt viel zur Vergewisserung
der eigenen Vergänglichkeit bei. Das treibt und
ermutigt zu tätigem Leben.

Jürgen Rennert
rennert.de >>